(57) Veröffentlicht: 03.November 2019

DIE NACHT DER TAUSEND AUGEN
GB, 1973 – 99 min. – FSK 16
Originaltitel: Night Watch

Drehzeit: 16.Oktober – Dezember 1972 (in London)
Kinopremieren: GB- 10.August 1973; D- 9.November 1973

Ellen Wheeler, eine vermögende und zurückgezogen lebende Frau, die zum zweiten Mal verheiratet ist (ihr erster Mann starb bei einem Autounfall gemeinsam mit seiner Geliebten), beobachtet eines Nachts, wie in dem ihr gegenüberliegenden Haus ein Mord geschieht. Niemand, auch nicht ihr Mann John, ist gewillt, ihr zu glauben, denn sie gilt als psychisch instabil. Dennoch ruft ihr Mann schliesslich doch die Polizei, die aber keinerlei Spuren eines Verbrechens finden kann. Ellen, die seit dem Tod ihres ersten Mannes unter schlimmen Alpträumen leidet und glaubt, daß John sie mit ihrer besten Freundin Sarah betrügt, betäubt sich fortan nur umso mehr mit Alkohol und Tabletten, die ihr sowohl ihr Mann als auch der in ihren Augen nur scheinbar fürsorgliche Nachbar Appleby besorgen. Ellen fürchtet zudem, daß man sie nur in den Wahnsinn treiben will, um an ihr Geld zu gelangen... doch ist sie wirklich in Gefahr, oder geisteskrank, und was geschieht wirklich und was ist nur ein Trugbild ihres Geistes?

Es hat lange gedauert, bis ich mir diesen Film, trotz des interessant klingenden und schon in seiner Zusammenfassung vielversprechenden Plots, das erste Mal angeschaut habe- und zwar aus einem Grund: die Taylor, denn ich mag sie normalerweise nicht ansehen. War sie (meiner massgeblichen Meinung nach) als Kinderstar schon mehr nervig als süss, so wurde sie einer der überschätztesten (und doch meistverdienenden) Filmstars ihrer Zeit- beschränktes Talent, statisches Spiel, stets gleiche Gesten und Mimik hin oder her. Unfassbar, wie sie das geschafft hat. Dann ihre Spätwerke im Alkoholrausch, ein Film schlimmer als der andere, eine Leistung übler als die andere, und sie irgendwie nur noch durch ihre zahlreichen Eheschliessungen und andere Eskapaden in den Schlagzeilen.
Irgendwann dann erbarmte ich mich des Films- zum Glück. Zwar ist sie auch hier nicht gerade eine schauspielerische Entdeckung (obwohl Dreh- und Angelpunkt des Films), aber erstens ist sie immerhin (in ihrem einzigen Film des Genres, vielleicht hätte sie mehr machen sollen) zu meinem grossen Erstaunen in guter Form, und zweitens ist der Film tatsächlich ein Knaller (den sie wahrscheinlich selbst durch eine schlechte Leistung nicht hätte verhunzen können). Dennoch bleibt die Vorstellung, was eine so richtig tolle Schauspielerin (noch mehr) aus dieser Rolle hätte machen können, man schaue den Film und stelle sich zum Beispiel die begnadete Maggie Smith in der Rolle vor.

Elizabeth Taylor- um ehrlich zu sein: Ein guter Film macht noch keine tolle Schauspielerin!
Laurence Harvey- ein guter Schauspieler macht einen Film noch toller!
Obwohl der Film zunächst viele Minuten braucht, um richtig in Fahrt zu kommen (er beginnt mit zu langen Einstellungen und geschwurbelten Erklärdialogen, die, obwohl sie dem Zuschauer in den Film "hinein helfen sollen", ihren Sinn nicht wirklich erfüllen), entwickelt er sich dann doch zu einem originellen Psychothriller und Überraschungsgrusler erster Güteklasse. Auf angenehme Weise ganz in der Tradition ähnlicher Filme früherer Zeiten hergestellt und in die Siebziger modernisiert, spielt der Film geschickt und wirkungsvoll mit den Erwartungen des Publikums. Die Ausgangslage scheint eigentlich klar: auf der einen Seite ist da die verwirrte und bedrohte Frau, auf der anderen Seite die, die sich gegen sie verschworen haben, und nichts, was passiert, ist an sich allzu unerwartet. Und doch schafft es das facettenreiche Drehbuch, uns bei Laune zu halten. Der Spannungsbogen steigert sich weiter und wir fragen uns, worauf das alles nun hinauslaufen wird, und wer am Ende wie aus der Geschichte herauskommt. Ein gutes Ende allerdings scheint von Anfang an nicht zu erwarten zu sein.

Man fühlt sich des öfteren bei diesem Film an Hitchcock erinnert, der das wohl so ähnlich in Szene gesetzt hätte, und das ist sehr wohl als Kompliment an den Regisseur Hutton zu verstehen. Er hat hier einen bemerkenswerten und schweisstreibenden Thriller geschaffen, der sich nicht vor anderen des Genres verstecken muss. Grosser Effekte bedarf es nicht, schon (zumindest lange) gar keiner ausgedehnten Gewalt- es reicht, wenn es immer mal wieder unheimliche Geräusche gibt, viel Gewitter und seltsame Schatten und/oder überraschende Kamerafahrten, und dazu die passende Musikuntermalung. Die Farben sind ziemlich zurückhaltend, was aber dem Film nicht schadet, sondern ihm eine angenehm-altmodische Atmosphäre verleiht. Die verzerrte Optik in den Rückblenden tut ihr übriges (und lässt Frau Taylor in diesen Szenen gewollt jünger erscheinen).

Laurence Harvey, hier schon sichtbar von einer Krebserkrankung gezeichnet, an der er im Jahr nach den Dreharbeiten verstarb, gibt einen wunderbar-undurchsichtigen, und doch charmant-liebenswürdigen und anderen gegenüber glaubhaft um seine Frau besorgten, Ehemann. Er lässt auch den Zuschauer kaum hinter seine Fassade blicken, und er ist oft der Grund, warum wir auch an Ellen’s Wahrnehmungen zweifeln. Kann so einer ihr wirklich nach dem Leben trachten?
Die so oft unter ihren Fähigkeiten und nur als Sidekick eingesetzte Billie Whitelaw schafft das ähnlich, sie ist doch Ellen’s beste Freundin, hilft ihr, wo sie nur kann, tröstet und ist da, wenn sie gebraucht wird- so eine nimmt der Freundin doch nicht den Mann oder will ihr Böses, oder doch?


Billie Whitelaw
Links: Robert Lang; Rechts: Bill Dean

Fazit:
Der Thrillerfreund kommt voll auf seine Kosten, bis zum Finale Grande. Ein absoluter ohne Pause-Dranbleiber-Filmgenuss. Nicht brutal, aber wegen seiner geschickt eingesetzten und Kinder leicht überfordernden psychologischen Raffinessen tatsächlich zu Recht eine FSK 16.
Guten Gewissens kann man hier zur deutsch synchronisierten Fassung greifen, die vor allem mit Rosemarie Fendel und Erik Schumann als den Wheelers kongenial besetzt ist.

Darsteller:
Elizabeth Taylor als Ellen Wheeler – Deutsch: Rosemarie Fendel
Laurence Harvey als John Wheeler – Deutsch: Erik Schumann
Billie Whitelaw als Sarah Cooke – Deutsch: Helga Trümper
Robert Lang als Appleby, Nachbar der Wheelers – Deutsch: Wolf Ackva
 

Bill Dean als Inspector Walker – Deutsch: Horst Naumann
Tony Britton als Tony, Psychiater und Freund von John – Deutsch: Thomas Reiner
Michael Danv
ers-Walker als Sergeant Norris – Deutsch: ?
u.A.

Regie: Brian G.Hutton
Drehbuch: Tony Williamson, nach dem Bühnenstück von Lucille Fletcher (1972)
Zusätzliche Dialoge: Evan Jones
Kamera: Billy Williams
Musik: John Cameron
Schnitt: John Jympson
Art Direction: Peter Murton
Szenenbild: Peter James
Make Up: Eric Allwright, Ron Berkeley
Regieassistenz: Scott Wodehouse

Produktion: George W.George, Martin Poll, Barnard Straus

Der auch als „James Bond“-Darsteller bekannte Schauspieler Roger Moore fungierte bei diesem Film als Executive Producer, was einen seiner sehr seltenen Jobs hinter einer Filmkamera bedeutete. Im Vor- oder Abspann jedoch ist er nicht  genannt.

Spoiler:
In einem furios-grossartigen und dann ziemlich blutigen Finale im vermeintlichen Mordhaus von gegenüber stellt sich schliesslich (und für den Zuschauer tatsächlich völlig überraschend) heraus, daß Ellen Wheeler die eigentlich Böse im „Spiel“ ist und alles nur inszeniert hat, um ihren eben doch treulosen Mann und seine tatsächliche Geliebte Sarah kaltblütig aus dem Weg zu schaffen- sie ersticht beide und drapiert die Leichen so, wie sie vorher der Polizei erzählt hatte, den Mord gegenüber beobachtet zu haben. Nachbar Appleby entpuppt sich als Zeuge, doch gratuliert er Ellen zu ihrem Komplott und (da er denkt, die Polizei würde ihm ohnehin nicht glauben) verspricht er ihr, für immer zu schweigen. Ellen stellt ihn als Hausmeister ein (was ihn glücklich macht, da er im jetzigen Haus der Wheelers einst aufgewachsen war), und verlässt ihr Zuhause mit unbekannttem Ziel.