(33) Veröffentlicht: 30.Juli 2019

TREFFPUNKT TODESBRÜCKE
Auch, bzw. Kino/Video D: CASSANDRA CROSSING
GB/Italien/D, 1976 – Originaltitel GB/Italien: (The) Cassandra Crossing
Länge: 129 min. – FSK 16

Drehzeit: Erstes Quartal 1976
Kinopremieren: D- 31.März 1977; Italien- 18.Dezember 1976; GB- 1.März 1977


In Genf brechen drei Terroristen in ein Forschungslabor ein, um eine Bombe zu legen, aber infizieren sich bei dem schliesslich fehlgeschlagenen Überfall mit einem mutierten Pestbakterium, das leicht übertragbar ist. Einer der Männer kann, bereits von der Infektion gezeichnet, in einen Transkontinentalzug flüchten, der auf eine Reise quer durch Europa aufbricht. Von einem seiner Mittäter erfährt die Polizei davon.
Es dauert nicht lange, und die ersten Passagiere des Zuges sind ebenfalls infiziert…
 


Trotz seines beachtlichen Aufgebotes bekannter Schauspieler und des zu seiner Zeit recht erfolgreichen Katastrophenfilmgenres, wohinein dieser Film im weitesten Sinne gehört, blieb dem Film (obwohl später mit einem neuen, schreierischen deutschen Titel versehen, der geschickterweise damit von Anfang an verrät, worauf es hinausläuft) der ganz grosse Erfolg versagt. Vielleicht auch, weil das Genre bereits in den letzten Filmzuckungen lag und inzwischen zu sehr „abgenudelt“ worden war, vielleicht aber auch einfach, weil Bahnfahren an sich und im realen Leben den Menschen schon genug Katastrophe ist und man sich nicht auch noch andere dabei ansehen wollte.



Zunächst (wie auch wieder im letzten Viertel) geht hier alles recht schnell von statten, allerdings nicht so, daß man Mühe hätte, der Story zu folgen, die ohnehin recht überschaubar ist (meist ein Merkmal damaliger Katastrophenstreifen). Auch, wenn es später im Film (vor allem im Mittelteil) kleinere (streckende) Längen gibt, und manch persönliches Gespräch der Protagonisten nur dazu zu dienen scheint, die Hauptdarsteller am Spielen zu lassen und jedem/jeder seine besonderen Szenen zu geben, vermeidet der Film doch allzuviel davon und hält insgesamt gut bei Laune.
Der quasi-Prolog bis zur Abfahrt des Zuges dauert gerade einmal 15 Minuten, und das inklusive der Vorstellung der meisten Hauptcharaktere und der Umstände, warum sie in die Geschichte verwickelt werden- die im Zug haben halt einfach das Pech, das falsche Beförderungsmittel zur falschen Zeit gewählt zu haben, und die „draussen“ sind vor allem die, die heimlich verbotene Experimente mit Bakterien gemacht haben ( zweifellos, um daraus chemische Waffen herzustellen), und deren zumeist willige Helfer. Dumm gelaufen, daß das Zeugs nun „in Umlauf“ kommt- das darf natürlich nicht publik werden.
 

Draussen“, das sind eigentlich nur zwei wesentliche Akteure (John Philip Law als Major kann man mangels Auftrittszeit mal aussen vor lassen, irgendwie hätts ihn gar nicht gebraucht, und ansonsten wimmelts vor allem nur von anonymen Soldaten, die ihre Befehle durchziehen, ob mit oder ohne Sinn, aber meist ohne Verstand, hauptsache im Zug brutal durchgreifen und draufballern). Da ist zum einen der herausragende Burt Lancaster (der immer gerne in Europa gedreht hat) als ernster, sturer und niemals an seinen Befehlen zweifelnder Militär. Schon nach einer halben Stunde Spielzeit ist klar, der zieht das durch, für ihn gibt es keine Alternative- der Zug muss umgeleitet werden, zur Brücke „Cassandra Crossing“, wohl wissend, daß diese das Gewicht nicht halten wird und alle Insassen dem Tode geweiht sind („Oder wollen Sie, daß tausend möglicherweise infizierte Passagiere aussteigen und in der Landschaft herumlaufen?“). Da wird der Held so vieler Filme zum skrupellosen Menschenopferer, und obwohl seine Rolle grösstenteils darin besteht, in einem sicheren Bunker zu sitzen und Befehle (weiter) zu geben, ist er auch als Antiheld immer noch ein ganz famoser Schauspieler, dem man gerne zusieht- ist sein Charakter hier auch noch so unsympathisch. Wenn er dann am Schluss cool die Szenerie verlässt, sich kurz nochmal (buchstäblich) die Hände „in Unschuld“ wäscht, dann ist auch das ganz, ganz grosses Kino.
Ingrid Thulin als herbe Schönheit kann neben ihm bestehen, ihr Charakter versucht glaubhaft zu retten, was und wer noch zu retten ist, und spätestens, wenn es eine Lösung geben kann, die den Tod der Menschen verhindert (
siehe Spoiler), läuft sie zur Grossform auf. Die schwedische Schauspielerin (interessanterweise sind im Film die Terroristen Schweden, und das eigentliche Ziel des Zugs Stockholm) und Ingmar Bergman-Stammbesetzung war ansonsten eher in anspruchsvollen Dramen denn im Actionkino zu sehen- spätestens nach ihrem Auftritt hier ist das sehr zu bedauern.



Kommen wir zum Hauptort des Geschehens- „drinnen“. Im Zug. Die genreübliche Charakteremischung- bei der mancher nicht das ist, als das man zunächst erscheint und die Grenzen zwischen Gut und Böse gern verwischen- eine zufällig zusammengekommene Zwangsgemeinschaft, eben noch Fremde und jetzt auf sich allein gestellt und aufeinander angewiesen, unversehens und unschuldig in einer aussichtslosen Lage, mit dem gleichen Ziel, hier heil herauszukommen. Verdammt dazu, zusammen zu arbeiten und zusammen zu halten. Schon bei einem Drittel der Handlung (wenn der Terrorist von ihnen gefunden wird und stirbt, aber spätestens, wenn der Zug verrammelt wird, sie von Soldaten bewacht werden und herausbekommen, daß die Route geändert wurde) ist den Menschen klar, daß von aussen keine Hilfe zu erwarten ist, daß sie ein Problem darstellen, von dem niemand erfahren soll.

Eine grosse Stärke des Films ist dabei, daß es keinen greifbaren physischen Gegner gibt, sondern man sie einfach immer weiter fahren und von aussen im Unklaren lässt, dort in ihrem rollenden und klaustrophobischem Gefängnis. Die Wahrheit müssen sie selbst herausbekommen, inklusive des Wissens um ihr Schicksal (siehe Spoiler).

Bei den Darstellern gibt es hier von Top bis Flop alles, selten, daß man in einem Ensemblefilm eine so krasse Mischung zu sehen bekommt (wobei man allerdings tatsächlich schon viel mehr und noch gelangweiltere Gesichter in artverwandten Filmen gesehen hat, selbst in Extremsituationen, nicht zu reden von noch einfacher gezeichneten Charakteren). Richard Harris als Machoman und Anführer der Insassenrevolution und Martin Sheen als (offenbar nicht nur in der Rolle) gelangweilter Loverboy der in die Jahre gekommenen, aber zumindest als arrogante Zicke überzeugenden Ava Gardner, spielen zwar gut, aber auch sichtlich unterfordert und weit unter ihrem Können. O.J.Simpson scheint der einzige zu sein, der so richtig Spaß an seiner Rolle hatte, vielleicht, weil es eine der vielschichtigsten (und im Verlauf des Films ob seiner „Verwandlung“ überraschendsten) ist, oder aber auch, weil er so in allen seinen Filmen rüberkam; Lionel Stander nervt den Zuschauer schon früh mit dem ständigen positiven Denken seines Charakters- hallo, wir wollen Katastrophe sehen und keinen Tröster im Vorraus; und Lee Strasberg zeigt, warum er auch ein so grosser Schauspiellehrer war (von dem kann man nämlich lernen)- seine schreckliche Vergangenheit im Gebiet der „Cassandra Crossing“ wird schnell klar, und er gibt einen grossartigen, verzweifelten Mensch, der nun wirklich nicht dahin zurück will, und auch noch genau weiss, was ihm und den anderen dort „blüht“ und da0 sich sein Schicksal wohl dort erfüllen soll.
Warum aber die stets
überforderte und immer weit überschätzte Sophia Loren hier mitspielen musste, lässt sich wohl nur durch den Produzenten (ihren Ehemann) erklären, weder braucht es sie, noch ihren Filmcharakter, im Gegenteil- ein Totalausfall. Da nützen auch die Grossaufnahmen nichts, mit denen es der Regisseur hier allgemein etwas übertrieben hat, da sie jedesmal wieder Spannung zurücknehmen.
Von allzu dämlichen Dialogen werden wir jedoch zumeist verschont.


Was allerdings die Filmkontinuität angeht, da hat mehr als nur eine Person tief und fest die Dreharbeiten verschlafen, und der ganze ansonsten hervorragend arbeitende Stab (klasse Kameraeinstellungen- auch und besonders aus der Luft, rasanter aber niemals verwirrender Schnitt, fesselnde und unaufdringlich-unterstreichende Musik) muss sich darüber masslos ärgern. Ohne sich viel Mühe geben zu müssen, genau mitzuverfolgen, was da passiert, wird man leicht feststellen, daß der Zug so irgendwie immer nur hin und her fährt, immer auf der selben (kurzen) Strecke (Umgebung beachten, ein Stichwort: Berge), mal in die eine, mal in die andere Richtung, und daß dieser Zug Oberleitungen braucht, die aber meistens gar nicht da sind (geschweige denn, da, wo man fährt, sein könnten). Sowas ist dann doch ganz schön peinlich für so einen recht teuren Film.
Und ganz ehrlich: mir jedenfalls ist das schon beim ersten Anschauen, damals als Jugendlicher, aufgefallen.


Fazit:
Alles in allem ist „Cassandra Crossing“ ein empfehlenswertes Stück leider heute so gut wie vergessenes (meist geradezu, im besten Sinne, altmodisches) Ereigniskino, das lange schadlos ohne grosse Schiesserei auskommt und auch sonst nicht viel Action braucht- die dramatische Spannung drumherum machts. Sehenswert trotz kleiner Längen und ein potentieller Klassiker für Freunde gut gemachten und manchmal etwas absurden Kinos. Zum Schluss dann noch richtig gut gemake-uptes Menschendurcheinanderwirbelchaos und das zwar spektakuläre, aber eher so na ja-getrickste Ende (Logikfehler: bei dem sich die Frage stellt, wie Zugwaggons bei einem Absturz explodieren können).
Die FSK 16-Bewertung verstehe, wer will (aber wer versteht schon die FSK?). hier ist nichts im Film, was nicht auch ab 12 „zumutbar“ ist.
Da die deutsche Synchronisation vom allerfeinsten ist, kann man diese ohne Einschränkungen empfehlen.
Also: Angucken, egal unter welchem Titel er nun zu finden ist (unter beiden suchen).



Darsteller:
Richard Harris (als Dr.Jonathan Chamberlain) – Deutsch: Michael Chevalier
Sophia Loren (als Jennifer Rispoli-Chamberlain) – Deutsch: Marion Degler
Burt Lancaster (als Colonel Stephen Mackenzie) – Deutsch: Horst Niendorf
Ava Gardner (als Nicole Dressler) – Deutsch: Dagmar Altrichter
Ingrid Thulin (als Dr.Elena Stradler) – Deutsch: Bettina Schön
Lionel Stander (als Max, Zugschaffner) – Deutsch: Wolfgang Lukschy
O.J.Simpson (als Haley) – Deutsch: Dieter B.Gerlach
Martin Sheen (als Robby Navarro) – Deutsch: Joachim Kerzel
Lee Strasberg (als Herman Kaplan) – Deutsch: Herbert Grünbaum
John Phillip Law (als Major Stark) – Deutsch: Norbert Gescher
Alida Valli (als Mrs.Chadwick) – Deutsch: ?

Ann Turkel (als Susan) – Deutsch: Cornelia Meinhardt
Lou Castel (als Terrorist 1) – Deutsch: ?
Stefano Patrizi (als Terrorist 2) – keine Sprechrolle
u.A.

Regie: George Pan Cosmatos
Drehbuch: Tom Mankiewicz, Robert Katz, George Pan Cosmatos
Story: Robert Katz, George Pan Cosmatos
Kamera: Ennio Guarnieri/Kamera bei den Luftaufnahmen: Ron Goodman
Musik: Jerry Goldsmith
Schnitt: Francoise Bonnot, Roberto Silvi
Produktionsdesign und Modelle: Aurelio Crugnola

Szenenbild: Mario Liverani
Kostüme: Adriana Berselli
Make Up: Giuseppe Banchelli, Mario Van Riel, Marisa Tilli
Spezialeffekte: Aldo Gasparri, Roberto Pignotti
Regieassistenz: Joe Pollini, Tony Brandt, Antonio Gabrielli, Emy Werba
Produktion: Carlo Ponti

Spoiler:
Nach der zwangsweisen Versiegelung des Zuges muss flüssiger Sauerstoff zugeführt werden, der schliesslich die Bakterien unschädlich macht. Etwa bei Minute 95 des Films erkennt auch Dr.Stradler die Wirkung des Sauerstoffs, da ein aus dem Zug “geretteter” Hund schnell wieder gesund wird. Doch Colonel Mackenzie hält am Befehl fest, den Zug auf der Brücke “Cassandra Crossing” in Polen abstürzen zu lassen und damit alle Passagiere zu töten. Auch den Passagieren wird klar, was man mit ihnen vorhat, und Herman Kaplan, der die Gegend als einstmaliger Gefangener in einem Nazi-KZ kennt, weiß, daß die Brücke unter ihnen einstürzen muss. Einigen Passagieren (darunter nicht alle obigen Hauptdarsteller, siehe Bodycount) gelingt es, einen Teil des Zuges abzusprengen und damit dem Absturz zu entgehen.
Colonel Mackenzie wird jedoch gemeldet, daß es keine Überlebenden (“no survivors”) gebe, und er verlässt die Einsatzzentrale...
Ende.

Weiterer Logikfehler (im Finale des Films):
Es stürzen sichtlich weitaus mehr Waggons in die Tiefe, als es nach der Trennung des Zuges sein dürften (wohl Absicht des Filmemachers, um mehr Dramatik darzustellen).


Anmerkung zum Spoiler:
Daß es schliesslich doch ein (wenigstens für manche, aber auch nicht für alle „Sympathieträger“) gutes Ende nimmt, ist somit auch nur ihnen selbst (und einem auch in anderen Filmen schon in ähnlicher Weise genutzten Zufall) zu verdanken, und nicht anderen,
Hätte man den Film tatsächlich doch (wie wohl ursprünglich vom Autoren geplant) mit dem grossen Todesfinale für alle im Zug enden lassen, wäre das noch die Krönung der im Film mehr als angedeuteten Kritik an Obrigkeiten (Regierungen, Militär) gewesen und hätte dem Werk nicht geschadet- da fehlte es wohl aber am Mumm dafür.

Trivia:
Bei der im Film (ab Minute 80 immer wieder) gezeigten Brücke handelt es sich um den Garabit-Viadukt in Südfrankreich, der zwischen 1880 und 1884 von Gustave Eiffel erbaut wurde, der auch den Eiffelturm in Paris gebaut hat. 

Bodycount:
- Terroristen erschiessen drei Wächter bei ihrem Einbruch in das Labor
- Einer der Wächter erschiesst mit letzter Kraft einen der insgesamt drei Terroristen
- Terrorist 2 stirbt im Krankenhaus an der Pest
- Helikopterpilot und Beiflieger sterben durch Zusammenstoss mit einem Berg bei der Verfolgung des Zuges
(in manchen Versionen ist die Szene herausgeschnitten)
- Terrorist 1 stirbt im Zug an der Pest
- Eine Nonne stirbt im Zug an der Pest
- Haley erschiesst drei Soldaten beim Befreiungsversuch
- Robby Navarro wird von Soldaten erschossen
- Haley wird von Soldaten erschossen
- Herman Kaplan opfert sich beim Abkuppeln der Waggons und stirbt durch explodierende Gasflaschen
- Unzählige Tote beim Sturz der Waggons in die Schlucht
(siehe Spoiler)